Der Hörige
Man könnte sagen es ist wieder einer dieser Jagdtage, wo es mich gezielt auf meinen Bock hinauszog. Doch dieses Mal war es nicht so.
Es war Dienstag. Eine Woche vor Aufgang der Rotwildjagd. In diesem Jahr hatte ich viel Rotwild bei mir im Pirschbezirk und wollte deshalb bis dahin ein wenig Ruhe einkehren lassen.
Doch aus irgendeinem Grund suchte ich an diesem Tag meine eigene Ruhe und musste dazu in meinen Wald. Für mich mein eigener magischer Ort der Stille und Verbundenheit mit der Natur.
Diesmal war der Sitz schnell ausgesucht, genügend Mückenspray war aufgetragen und ich hatte mir sogar einen Joghurt eingepackt.
Ich pirschte Schritt für Schritt meinem Sitz entgegen und lauschte nach verräterischen Geräuschen, welche mir vielleicht das Wild verrieten. Es blieb jedoch alles still und so baumte ich auf und richtete mich ein. Es wehte nicht einmal ein Hauch von Wind und so hatte ich das Gefühl, dass jede meiner Bewegungen laut durch den Wald hallen würde.
Ich schloss meine Augen und vernahm nur das sonnore Summen der Mücken und Bremsen. Tief atmete ich den sommerlichen Duft des Holzes und des Waldbodens ein und langsam spürte ich, wie ich mich zu entspannen begann.
Nach kurzer Zeit öffnete ich meinen Joghurt und ließ ihn mir schmecken. Löffel für Löffel und immer darauf bedacht nicht zu viel Lärm zu machen.
Als mein Appetit gestillt war, überlegte ich mir es doch noch einmal mit dem Blatter zu probieren. All die Versuche in den Wochen und Tagen davor waren vollkommen erfolglos geblieben. Nicht ein rotes Haar ließ sich blicken, doch dieses letzte Mal sollte es doch funktionieren, oder etwa nicht?
Ich setze mir das Instrument an die Lippen und ließ ein, zwei noch recht leise, aber sehnsüchtige Fieplaute erklingen.
Ein Rascheln! Ein Rascheln? Moment… Tatsächlich konnte ich rechts von mir eine Bewegung ausmachen. Doch wo war der Schatten jetzt? Ich ließ noch zwei Töne aus dem Blatter heraus und ging so vorsichtig wie möglich in den Voranschlag. Nichts passierte.
Habe ich mich so getäuscht und das eben war vielleicht nur ein Hase gewesen?
Noch ein sehnsüchtiges Fiepen meinerseits und es krachte und raschelte wieder. Da stand er.
Der so lange verloren geglaubte Einstangige. Er zog, nein er stolzierte auf die Schneise vor mir und zeigte sich in seiner vollen Stärke.
Ich hörte mein Herz in den Ohren schlagen und versuchte alle Ruhe zu bewahren.
Das Absehen ruhte auf dem Bock, doch dieser hatte es sich anders überlegt und kam auf mich zu. Keine 20m trennten uns mehr, als er sich wieder breit stellte. Er äugte in meine Richtung.
Mein Finger berührte den Abzug und langsam erhöhte ich den Druck.
Ein Knall zerriss die Stille und vier Läufe wirbelten den trockenen Boden auf.
Beim repetieren, klappterte die leere Hülse auf das Holzbrett unter mir.
Ein letztes Rascheln klang aus der Fichtenverjüngung zu mir herüber und es wurde wieder still. Totenstill.
Mit zitternden Fingern versuchte ich meine Sachen in den Jagdrucksack zu packen und baumte nach einer „Zigarettenlänge“ ab. Ich konnte bei aller Anstrengung keinen Anschuss finden und so ging ich in die Richtung, welcher der Bock in seiner Todesflucht eingeschlagen hatte.
Eine rote Decke blitzte in der Sonne auf. Dort lag er. Mein erster Einstangenbock.
Das ganze Frühjahr und den ganzen Sommer hatte ich angesessen und gehofft und nun ging alles so schnell, dass ich es noch gar nicht fassen konnte.
Seine Stange war nicht stark. Sie reichte gerade so bis an die Lauscher und ließ auf ein ehemals knuffiges Sechsergehörn schließen. Die andere Stange schaute nur noch als Knubbel aus dem Haupt. Sie musste bei ihrer Bildung wohl abgebrochen sein.
Der Bock hatte eine herrliche rote Sommerdecke und ich musste mich für einen Moment setzen, um meinen Gefühlen und den Gedanken freien Lauf zu lassen.
Nach einer schweißtreibenden Bergung ging es dann zur Kühlkammer.
Ich durfte mit meinem Vater dem Bock die letzte Ehre erweisen und so spielten wir gemeinsam das Signal „Bock tot“.
Meine Mutter und meine Schwester waren ebenfalls gekommen und schauten sich das ganze an. Dies freute mich ganz besonders, da die beiden ansonsten nicht so viel mit der Jagd zu tun haben. Meine Schwester hat zwar ihren Jagdschein gemacht, doch leider entwickelte sich bei ihr, bis jetzt, noch keine richtige Passion für das Waidwerk.
Noch lange nach diesem Tag denke ich an den Bock und ein wunderschönes Blattzeiterlebnis zurück.